6. Mrz
Volkskongress: China denkt um
Viele Jahre hat das Land den Schutz der Umwelt den Konjunkturzielen geopfert. Doch nun wandelt sich China zum grünen Vorreiter.
PEKING. Die Nennung der Konjunkturziele ist ein Ritual, das sich Jahr für Jahr wiederholt. Sie ist Teil der Regierungserklärung des chinesischen Premiers zur Eröffnung des Nationalen Volkskongresses. Der Regierungschef hält diese Rede immer Anfang März in der Großen Halle des Volkes in Peking. Doch hinter der immer gleichen Form der Darbietung mit Marschmusik und roten Fahnen verstecken sich in diesem Jahr echte Neuigkeiten. China denkt um.
Die Volkswirtschaft soll in diesem Jahr nur rund sieben Prozent wachsen, kündigte Premier Li Keqiang am Donnerstagmorgen vor dem gelenkten Parlament an. Auch in der Vergangenheit gab es so niedrige Wachstumsziele – beispielsweise im Jahr 2004. Doch damals verstand sich von selbst, dass der tatsächliche Wert am Jahresende höher ausfallen wird. Hier fangen die Unterschiede schon an: Für die Regierung Li macht es nicht, das Ziel auch zu unterschreiten.
Denn ein niedriges Wachstumsziel gilt heute paradoxerweise als Zeichen der Stärke. Die derzeitige chinesische Führung hat das Selbstbewusstsein, sich vom Turbo-Wachstum um jeden Preis zu verabschieden. In der eigenen Partei, in der Bevölkerung und in den Firmen waren die hohen Ziele der vergangenen Jahre beliebt. Ein Manager beispielsweise konnte bei so munterer Konjunktur fast nichts falsch machen.
In den vergangenen zwei Jahren hat Li es auf sich genommen, die chinesische Wirtschaft vom Turbo-Wachstum zu entwöhnen. Sieben Prozent sind zwar nur noch halb so viel wie 2007, doch sie reichen dem Premier zufolge völlig aus. Das widerspricht einer Logik, die noch vor wenigen Jahren keiner in Frage gestellt hat. Damals hieß es, China brauche mindestens acht Prozent, um nicht in Arbeitslosigkeit und Anarchie zu verfallen.
Die Führung des Landes sieht Wachstumsziele jedoch heute nicht mehr als Selbstzweck, sondern als Anhaltspunkte unter vielen anderen, die den Fortschritt abbilden.
Tatsächlich haben auch die Bürger heute andere Prioritäten. An einem Drittel der Tage im Jahr leiden sie in den Städten am Smog. Diese Stimmung hat die prominente TV-Journalisten Chai Jing in einer Dokumentation von Spielfilmlänge aufgegriffen. Sie zeigt Kinder, die kaum atmen können und belegt die Gefahren mit zahlreichen Statistiken.
Videoplattformen verzeichnen über 300 Millionen Abrufe für die Dokumentation. Das zeigt die Größenordnung des Interesses an dem Thema Umweltschutz. Chinas kommunistische Herrscher können das nicht ignorieren.
Viele Jahre hat China die Balance zwischen Wirtschaft und Umwelt als eine Situation des Entweder-oder betrachtet: Wer mehr für den Umweltschutz tut, opfert dafür Wachstumspunkte und Konjunkturziele.
In diesem Jahr zeichnet sich eine völlig neue Haltung ab: Umwelt ist mindestens ebenso wichtig wie das BIP. Mehr noch: Umweltschutz schafft Arbeitsplätze.
Ökonomen erkennen Spuren dieser neuen Denkweise auch in den Wirtschaftszielen, die der Volkskongress veröffentlicht. „Es gibt eine viel breiter gefasstere, viel offenere Denkweise“, sagt Louis Kuijs von der Royal Bank of Scotland in Hongkong. „Die Führung des Landes sieht Wachstumsziele nicht mehr als Selbstzweck, sondern als Anhaltspunkte unter vielen anderen, die den Fortschritt abbilden.“ Neben dem Bruttoinlandprodukt spielt inzwischen eben auch saubere Luft eine große Rolle.
Die jüngste Politik zeigt das bereits. Vermutlich wurden noch nie in der Geschichte der modernen Industrie viele dreckige Fabriken in so kurzer Zeit geschlossen. Allein 2014 hat China Windräder mit einer Leistung von 23 Gigawatt ans Netz angeschlossen – mehr als die Hälfte dessen, was in Deutschland überhaupt installiert ist.
Chinas Wirtschaftsplaner freuen sich über dieses Ergebnis: Sie tun etwas für die Luft, schaffen Arbeitsplätze und verstärken die Energiesicherheit. Dieser Erfolg beflügelt die Entscheidungsträger um den Nationalen Volkskongress, in diese Richtung weiterzumachen: Wachstum und Lebensqualität durch Umweltschutz.