25. Aug

Explosion der Hoffnungen

Schlechte Nachrichten aus China verunsichern weltweit die Investoren. Dies sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass dort eine großangelegte Aufwertung der Wirtschaft anläuft – wenn auch mit herben Rückschlägen

Schafft China die sieben Prozent Wachstum, die Premier Li Keqiang für dieses Jahr in Aussicht gestellt hat? Die Kette schlechter Nachrichten lässt daran zweifeln, ob die im März vorgegebene Zahl noch haltbar ist: Der Aktienmarkt ist auf seinen Startpunkt vom Jahresbeginn zurückgesetzt, Autohersteller registrieren einen Absatzrückgang, und auch das Hörensagen unter Geschäftsleuten vor Ort weist auf eine schlechtere Auftragslage hin.

 

Nicht zuletzt hat sich in der großen Hafenstadt Tianjin eine gewaltige Chemieexplosion ereignet, die Systemschwächen ans Licht gebracht und das Land im Schockzustand zurückgelassen hat. Peking versucht derzeit, mit einer Zinssenkung die Stimmung zu heben – doch die Wirkung ist fraglich, haben die Unternehmen doch zuletzt immer weniger auf geldpolitische Anreize reagiert.

 

Die Katastrophe von Tianjin hat zwar nur wenig direkte Wirkung auf die Konjunktur, doch sie steht für eines der großen Probleme, die derzeit im Reich der Mitte auf das Wachstum schlagen: veraltete Strukturen, Raubbau an Mensch und Natur – und die Mühe, die es bereitet, hier umzusteuern. Denn China arbeitet derzeit hart daran, eine bessere Wirtschaftsweise einzuführen: umweltfreundlicher, nachhaltiger, sauberer und sicherer. Der Feuerball über Tianjin hat gezeigt, dass der Weg dahin noch weit ist. Er hat aber auch bewiesen, dass das Umsteuern ohne Alternative ist. Kurzfristig kostet der Umbau der Wirtschaft jedoch Wachstumspunkte.

 

Die chinesische Konjunktur war lange von immer höheren Investitionen in neue Industrieanlagen getrieben. Vor allem der Ausbau der Schwerindustrie klappte besser als geplant. Heute haben fast alle Sektoren Überkapazitäten – vor allem Stahl, Werften oder Kohlegruben. Premier Li Keqiang hat sich einem Rückbau ineffizienter Branchen verschrieben – bei einem Schwenk zu mehr Nachhaltigkeit. Schon vor zwei Jahren hat er seine Landsleute darauf eingeschworen, dass damit die Zeit zweistelligen Wachstums vorbei ist.

 

Jetzt, im Spätsommer 2015, kommt alles zusammen. Die großen Konjunkturprogramme von 2009/2010 sind nicht nur ausgelaufen, sie haben nach einer wilden Ausgabenparty einen Kater hinterlassen: Millionen von ungenutzten Wohnungen, weitere Überkapazitäten und einen hohen Schuldenstand der Staatsbetriebe, dem eine steigende Zahl fauler Kredite in den Bankbilanzen gegenübersteht. Zugleich hat der Umbau in Richtung einer saubereren Wirtschaft begonnen – und das hat Nebenwirkungen. Tausende von Kohlekumpel haben ihre Jobs verloren. Dennoch ist die Luft nicht besser, und auch die Ursachen der Explosion von Tianjin stammen noch aus einer Zeit, als die Behörden die Umwelt und den Arbeitsschutz vernachlässigt haben.

 

Der negative Wachstumseffekt der neuen Umweltpolitik lässt sich am besten in den Kohlerevieren des chinesischen Kernlandes beobachten. Die nördlich gelegene Provinz Shanxi hat im Jahr 2014 nur die Hälfte des Wachstums erreicht, das sie sich vorgenommen hat. Statt neun Prozent stieg die Wirtschaftsleistung dort nur 4,9 Prozent. In der Nachbarprovinz Shaanxi sieht es ähnlich aus. Die Kohleproduktion war im gleichen Zeitraum um rund zwei Prozent gefallen.

 

Doch die nackte Zahl des Rückgangs sagt nur wenig über das, was in diesen Regionen  tatsächlich passiert. Wang Bai, 40 Jahre alt, weiß es besser – sein eigenes Unternehmen in der Stadt Yulin steht vor dem Aus. Wang tritt zwar auch heute noch betont selbstbewusst auf, doch im Grunde ist er Pleitier. Mit seinem quadratischen Gesicht wirkt er trotzdem weiterhin wie ein Macher und Entscheider – ihm stehen sogar die rauen Zigaretten der Marke „Lotus“, deren Rauch er tief einsaugt. „Ich habe heute jedoch viel Zeit zum Spazierengehen“, sagt Wang. „Vielleicht zu viel Zeit.“

 

Wang war 2009 ins Geschäft mit Kohletransporten eingestiegen. Er hatte keine eigenen Lkws angeschafft, sondern die Fahrer und ihre Wagen nach Bedarf angemietet. Als Logistiker war er Mittelsmann zwischen Kohlegruben und den Abnehmern, vor allem Kraftwerken. „Doch dann kam die Energiewende“, klagt Wang. Vor zwei Jahren hatte er noch ständig 100 Laster auf der Straße, heute sind es eher zwei. Leute aus seinem Gewerbe, die vorher rund 50.000 Euro im Monat eingenommen haben, kommen derzeit vielleicht noch auf 5.000. Seine Familie muss sich einschränken. „Damals haben wir zuhause jeden Tag Fleisch gegessen, heute kommt das nur noch selten vor.“ Seinen Audi hat er wieder verkauft.

 

Kein Wunder, dass in so einem Klima das Wachstum schwächelt – und die Kohlebranche steht nicht alleine da. Die große Werft Rongsheng Heavy Industries aus Changtong in der Nähe von Shanghai beispielsweise befindet sich nach einer gescheiterten Fusion in Abwicklung und hat nach und nach rund 10.000 Arbeiter entlassen. Chinas Schiffsbau hatte rund 30 Prozent Überkapazitäten. Diese alten, klassischen Industrien haben viele Menschen in Lohn gehalten und waren vergleichsweise gut darin, den entstehenden Wohlstand zu verteilen.

 

Premier Li will jedoch keine subventionierten Branchen in die Zukunft mitschleppen, die seine Regierung in ihren Wirtschaftsplänen entwirft. China soll innovativ werden und auf breiter Front zu Wohlstand kommen. Li treibt die Angst um, dass China statt dessen den Weg inflexibler kommunistischer Systeme geht und es versäumt, die Effizienz zu steigern. In Lateinamerika ist das Phänomen als die „Falle der mittelhohen Volkseinkommen“ bekannt: Viele Länder haben es recht schnell auf ein Bruttoinlandprodukt pro Kopf gebracht, das etwa 20 bis 30 Prozent des US-Wertes entspricht – sind dort aber hängengeblieben. China ist fest entschlossen, diesem Schicksal nicht zu folgen. Dafür, das weiß Li, muss im Land noch fast alles besser werden.

 

Die jüngsten Experimente mit dem Aktienmarkt gehört in denselben Zusammenhang. Peking will für seine runderneuerte Wirtschaft auch einen modernen Finanzmarkt schaffen. Premier Li hatte in der Zeit bis 2014 neue Regulierungen für die Börse einführen lassen, um schwarze Schafe aus dem Markt zu drängen. Im Sommer vergangenen Jahres hat er sich entschlossen, sowohl Investoren als auch Firmen verstärkt an die Börse zu locken. Er hat den öffentlich die Vorzüge einer Geldanlage in Aktien gepriesen und damit den Startschuss für eine phantastische Rally gegeben. Zu phantastisch, wie sich nach der Schubumkehr im Juli 2015 gezeigt hat.

 

Angesichts sinkender Firmengewinne und eines schwachen Wachstums haben die Investoren dem Boom nie wirklich getraut – und eher auf den Moment gewartet, an dem sie mit ihren Gewinnen wieder aussteigen können. Als die Kurse einmal ins Rutschen gerieten, haben auch Stützkäufe, die Li angekurbelt hat, nichts mehr ausrichten können. Aus dem Traum vom modernen Finanzmarkt ist für ihn vorerst ein Alptraum des gescheiterten Dirigismus geworden.

 

Trotz alldem sind Beobachter verblüffenderweise optimistisch, dass am Jahresende die angepeilten sieben Prozent Wachstum herauskommen. Denn Peking hat weiterhin reichlich Geld. „Die Wirtschaftsplaner haben noch viele Möglichkeiten für Konjunkturmaßnahmen“, sagt Ökonom Qu Hongbin von dem Bankhaus HSBC in Hongkong. Derzeit laufen großangelegte Ausgabenprojekte an, die vor allem in den Problemregionen Arbeitsplätze schaffen sollen. Der Wert liegt in Franken gerechnet bei einem dreistelligen Milliardenbetrag.

 

Die Schwerpunkte der aktuellen Programme verwundern nicht: schnelles Internet, sauberes Wasser, alternative Energie, direkte Schnellzüge und eine Aufwertung der Industrie in Richtung intelligenter Fertigung. Die China-Story ist also nicht zu Ende. Als Konkurrent für entwickelte Volkswirtschaften wie die Schweiz oder Deutschland strebt das Land gerade erst eine ganz neue Phase an.

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