14. Aug

Zu groß, zu schnell, zu gierig

Die Ursachen der Explosion von Tianjin zeigen Systemmängel in China

Die Katastrophe in der chinesischen Hafenstadt Tianjin zeigt zwei Grundprobleme der chinesischen Entwicklung: einen Mangel an wirksamer Aufsicht und die Folgen extrem schnellen Wachstums. Präsident Xi Jinping verspricht zwar schon seit Amtsantritt an beiden Fronten Abhilfe: Er will die Bestechlichkeit bekämpfen und die Entwicklung nachhaltiger machen. Doch der Anspruch seiner Partei auf Alleinherrschaft blockiert an vielen Stellen den Fortschritt.
Das heißt nicht, dass die Kommunistische Partei an der Explosion schuld ist – es geht vielmehr um eine Strukturfrage. Ganz offensichtlich hat die Aufsicht über den Hafen nicht funktioniert, denn auch in China gelten strenge Regeln zum Umgang mit Gefahrstoffen. Die Verantwortlichen haben die Ernsthaftigkeit ihrer Aufgabe nicht verinnerlicht. Der Firma, die Blausäure in der Stadt gelagert hat, fehlte Verständnis für gute Unternehmensführung. In China herrscht immer noch die Einstellung: Wer mit Korruption oder illegaler Kostenersparnis davonkommt, hat es richtig gemacht.
China bräuchte jedoch ein optimales Sicherheitsverständnis. Es handelt sich inzwischen um die zweitgrößte Volkswirtschaft, dort stehen mehr Chemiewerke und Raffinerien als in jedem anderen Land. Dutzende Kernkraftwerke befinden sich im Bau. Weil die Maßstäbe so groß sind, fallen auch die Unglücke größer aus.
Hauptursache war diesmal die Missachtung von Regeln. Chinas Vorschriften selbst sind dabei meist sinnvoll. Da die Modernisierung des Landes sich in gerade einmal 35 Jahren abgespielt hat, konnte der Gesetzgeber sich an guten Vorbildern weltweit orientieren. Doch gerade weil die Gesetze jung sind und im Pekinger Elfenbeinturm (ab)geschrieben wurden, haben sie oft nur wenig mit der Wirklichkeit im Land zu tun.
Da ist zum Beispiel das Arbeitsrecht, das sich in seinen Grundzügen nicht von seinen Vorbildern in Deutschland oder Schweden unterscheidet. In der Provinz ist es oft pure Theorie. Oder die Verkehrsregeln, die der deutschen Straßenverkehrsordnung ähneln. Auf Chinas Straßen gilt in Wirklichkeit schlicht das Recht des Stärkeren.
Mit einer lockeren Haltung gegenüber Regeln ist China nicht alleine auf der Welt. Doch im Reich betont die Kommunistische Partei Ordnung und Disziplin. Sie verspricht den Bürgern höchste Standards. Sie hält die Gesellschaft mit einem gigantischen Polizeiapparat unter Kontrolle.
Gerade der Polizeistaat ist es jedoch, der einem echten Sicherheitsbewusstsein oft entgegensteht. Wenn die Hafenaufsicht mit einem Chemiehändler unter einer Decke steckt, dann kann der aufmerksame Bürger kaum etwas machen. Die Leute haben Angst davor, sich an Medien oder Polizei zu wenden. Der Klüngel aus Behörden und Wirtschaft hält eng zusammen. Oft sitzen auf beiden Seiten Parteimitglieder.
Gewinn geht weit vor Moral. Da waren Milchproduzenten, die ihre Produkte mit giftigem Eiweißersatz gestreckt haben. Da waren Passanten, die ignoriert haben, dass ein zweijähriges Mädchen mehrfach überfahren wurde. Ein Lagerhausbetreiber, der brennbare Chemikalien ohne besondere Absicherung im Hafen abstellt, passt da ins Bild.
Xi Jinping ist mit seinen Kernprojekten offenbar noch nicht weit gekommen. Er hat das Problem der Gier in seiner Gesellschaft zwar erkannt und steuert mit einer Kampagne für „sozialistische Werten“ dagegen. Es war jedoch gerade der Sozialismus, der China jede Grundlage für Moral genommen hat.
Ähnlich verhält es sich mit der Korruptionsbekämpfung. Die Beamten trauen sich zwar inzwischen mehrheitlich nicht mehr, die Hand aufzuhalten. Sie tun das aber nicht aus Stolz auf saubere Arbeit, sondern aus Angst vor Strafe. An alldem wird sich kurzfristig wenig ändern lassen, doch eine freie Presse und eine offene Gesellschaft mit Transparenz und echtem Rechtfertigungsdruck für die regierende Partei könnten schon viel bewirken.

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