7. Aug
Angst vor dem Pikadon
Die Abschreckungswirkung von Hiroshima verblasst: 70 Jahre nach Hiroshima wächst die Bedrohung durch Atombomben
Tokio. Die Augenzeugen berichten übereinstimmend von einem grellen Blitz, mit dem das Unglück anfing, dann von einem Donnergrollen. Die Leidensgeschichten laufen ab diesem Nullpunkt auseinander, doch immer handeln sie von Verletzung, Krankheit und Tod. „Das Gebäude fiel über mir zusammen und ich wurde von einem schweren Balken eingeklemmt“, berichtete Chikae Matsumoto von den Minuten nach dem Abwurf der Bombe. Sie ging damals in die erste Klasse. „Ich schrie, so laut ich konnte. Einige Leute aus der Nachbarschaft halfen mir endlich heraus. Mein Gesicht, meine Arme und Beine bluteten.“
Chikae konnte mit ihrer Mutter aus dem brennenden Hiroshima fliehen. An einer Sanitätsstation verband ein Helfer ihre Wunden. Die meisten der Überlebenden, die sich hier sammelten, waren jedoch am ganzen Körper verbrannt. Sie starben in den folgenden Stunden.
Einige Tage später kehrte Chikae mit ihrer Mutter in die Stadt zurück, um den Vater zu suchen. Vom Haus der Familie Matsumoto waren nur noch ein paar Ziegel übrig. „Soldaten zerrten bei Aufräumarbeiten den schrecklich entstellten Körper meines Vaters aus den Trümmern“, erzählt Chikae. Am Krematorium lagen die Toten bereits zu Bergen aufgestapelt.
Die Nuklearexplosion über Hiroshima am 6. August 1945 tötete auf einen Schlag über 100.000 Menschen, riss Familien auseinander und brachte unendliches Leid über die Überlebenden. Hunderttausende litten an den Folgen der Strahlung – sogar noch in der zweiten Generation.
Mit dem ersten Kriegseinsatz einer Atombombe hat vor 70 Jahren das Zeitalter der Massenvernichtungswaffen begonnen. Die Menschheit lebt seitdem in dem Bewusstsein, dass sie sich selbst auslöschen kann. Seit Hiroshima steht das Fortbestehen unserer Art grundsätzlich in Frage. Der Mensch kann sich nicht mehr als Teil einer natürlichen Ordnung sehen, sondern muss sich als das bedrohlichste und unberechenbarste Element auf dem Planeten wahrnehmen. Hiroshima sei „das letzte Halteschild vor dem Abgrund“, schrieb Anfang der 80er-Jahre der Journalist und Historiker Hermann Vinke.
Es erschreckt daher, dass diese Warnung nach und nach an Wirkung verliert. Die Ereignisse wirken auf die junge Generation wie ferne Geschichte. Der japanische Verband der Atombombenüberlebenden hat sich kürzlich aufgelöst, weil seine 80- bis 90-jährigen Mitglieder nicht mehr die nötige Kraft für Aktivitäten hatten. „Die Zahl der Überlebenden nimmt ab und ihre Stimme wird leiser“, sagt Hiroshi Harada, 75 Jahre alt. Er ist selbst Überlebender des Atombombenabwurfs. „Wir aus Hiroshima müssen jedoch damit fortfahren, unsere Botschaft auszusenden: Das darf nie wieder geschehen!“
Weltweit wirkt die Möglichkeit einer zerstörerischen Kernexplosion zwar einerseits irrealer als je zuvor. Tatsächlich steigt jedoch andererseits die Gefahr einer politischen Eskalation, eines Terroranschlags oder sogar eines schrecklichen Versehens mit dem Ergebnis atomarer Vernichtung.
Rund um den Globus nehmen Spannungen zwischen Regionalmächten zu – in Europa wie in Asien. Selbst Japan wendet sich derzeit von dem Pazifismus ab, zu dem es sich als Täter- und Opferland des Zweiten Weltkriegs verpflichtet hat. Die konservative Regierung unter Premier Shinzo Abe hat gerade Auslandseinsätze der Armee legalisiert und plant eine offizielle Wiederbewaffnung des Landes – objektiv ein selbstverständlicher Schritt, auf symbolischer Ebene jedoch ein Tabubruch. Abe zeigt hier eine ähnliche Sturheit wie bei seinem Festhalten an der Atomkraft nach dem Unglück von Fukushima im Jahr 2011 – ausgerechnet in dem Land, das von den Folgen der entfesselten Kernreaktion so schlimm getroffen wurde wie kein anderes.
In Tokio ist aus Kreisen der regierenden Liberaldemokratischen Partei sogar zu hören, dass Japan eigene Kernwaffen benötige – schließlich sei man mit China, Russland und Nordkorea von unfreundlichen Atommächten umzingelt. Das ist in Japan eine Außenseiterposition, doch schon die Gedankenspiele weisen auf einen gefährlichen Trend hin: Die Welt der nuklearen Aufrüstung wird komplizierter. Mit Israel, Indien, Pakistan und Nordkorea verfügen Spieler über die Bombe, die weniger berechenbar sind als früher die zwei großen Machtblöcke. Russland vermisst eine Reihe von Sprengköpfen aus seinem Arsenal. Zahlreiche andere Länder denken über ein eigenes Atomprogramm nach. Iran ist kürzlich erst nach langem Ringen von seinen Nuklearplänen abgerückt – zumindest vorerst.
Für Machtpolitiker weltweit ist der Besitz einer Waffe von überlegener Zerstörungskraft unwiderstehlich. Das zeigt das Beispiel des jungen Machthabers von Nordkorea, Kim Jong-Un, der das eigene Atomprogramm unbeirrt fortsetzen lässt, auch wenn er sein Land damit wirtschaftlich und politisch isoliert. Wer die Bombe hat, wird ernst genommen, gehört zu den Großen am Verhandlungstisch, sichert seine Position nach allen Seiten ab.
Ähnliche Motive waren es, die Präsident Harry Truman vor 70 Jahren bewogen haben, die Bombe gegen Zivilisten einzusetzen. Japan war im Sommer 1945 eigentlich schon geschlagen und hatte Verhandlungen über einen Friedensschluss angebahnt. Doch Truman wollte der Sowjetunion die Zerstörungskraft der neuen Waffe zeigen – und die Nachkriegsordnung dominieren.
Die Regierung hatte zuvor unter größter Geheimhaltung Milliarden von Dollar für die Entwicklung Bombe ausgegeben. „Der Aufwand von so viel Zeit und Geld in Kriegszeiten hätte aus keinem anderen Grund gerechtfertigt werden können“ als einem Praxiseinsatz, gab damals sogar US-Kriegsminister Henry Stimson zu. Dem Historiker Stanley Goldberg zufolge waren die hohen Kosten der Hauptgrund für den zweifachen Einsatz gegen Japan – drei Tage nach Hiroshima verbrannte auch die Hafenstadt Nagasaki im atomaren Feuer.
Für die Amerikaner sah der ganze Vorgang zunächst sehr sauber aus. US-Journalisten haben die letzten Minuten an Bord des Bombers „Enola Gay“ rekonstruiert, der die neue Waffe am Morgen des 6. August nach Hiroshima gebracht hat. Der Bombenschütze visierte das Stadtzentrum durch ein Zielgerät an. „Ich hab’s“, verkündete er, als er mit der Ausrichtung zufrieden war, um setzte die Abwurfvorrichtung in Gang. Um 8.15 Uhr öffnete die Automatik den Bombenschacht und die viereinhalb Tonnen schwere Bombe kippte nach unten in Richtung Boden weg, während das Flugzeug, um seine Last erleichtert, nach oben ausbrach.
Der Pilot glich den Höhengewinn durch einen Sturzflug bei gleichzeitiger Drehung aus – die Besatzung sollte die Detonation beobachten und vermessen. Der Zünder würde 42 Sekunden nach Abwurf die Kernreaktion starten. Der Waffenoffizier des Flugzeugs sah die Stoppuhr ablaufen und fürchtete bereits eine Fehlzündung. Doch dann zuckte durch die Flugzeugscheiben ein so greller Blitz, dass der Pilot erst dachte, er sei blind geworden. Es war der gleiche Blitz, von dem die Augenzeugen wie die kleine Chikae Matsumoto am Boden berichten.
Ob Truman den Befehl zum Einsatz der Bombe gegeben hätte, wenn er sich ihre konkrete Wirkung auf die Menschen hätte vorstellen können? Eindringliche Warnungen amerikanischer Physiker hat er ignoriert, aber vielleicht haben diese sich zu nüchtern ausgedrückt. Heute liegen uns die Berichte von Kindern vor, die der Pädagoge Arata Osada 1951 zusammengetragen hat. Die Erzählung der zum Zeitpunkt des Angriffs sechsjährigen Chikae Matsumoto gehört zu einer Sammlung von Aufsätzen, die Osada unter dem Titel „Die Kinder der Atombombe“ herausgegeben hat. Osadas Buch gehört zu den eindringlichsten Warnungen vor Massenvernichtungswaffen, die es gibt.
In den Aufzeichnungen der Kinder wiederholt sich immer wieder der Wunsch, dass es nie wieder einen „Pikadon“ geben werde – diesen Begriff haben die Überlebenden aus den japanischen Worten für „grellem Blitz“ und „Donner“ zusammengezogen, um die infernalischen ersten Sekunden der Energiefreisetzung zu beschreiben. Im Friedensmuseum von Hiroshima warnt derweil eine Tafel: „Seht, bitte, was die Atombombe brachte: Leid, Schmerz, Zorn und den Blick in eine ungewisse Zukunft.“