15. Sep

Aufstand der Omas

In China nimmt der Streit um Tänze auf öffentlichen Plätzen bizarre Formen an – es fallen schon Schüsse

Peking. Diese Damen würden sich wehren, wenn jemand sie vertreiben wollte, so viel ist sicher. „Die sollen mal kommen, dann sehen die schon, ob die sich mit uns anlegen wollen“, sagt Wang Shufen, 67 Jahre alt, die Haare schwarz gefärbt und flott gelockt. „Bisher können wir hier aber tanzen, so viel wir wollen.“ Auf dem Platz in der Nähe des Vorderen Sees im Zentrum Pekings stampfen im Schein der Straßenlaternen drei Dutzend ältere Damen – und zwei Herren – im Takt der Tanzmusik aus einem schwarzen Lautsprecherblock.

 

Wang bedient den angeschlossenen CD-Player, und sie tätschelt stolz ihren Verstärker: Ein älteres chinesisches Modell, das es aber auf gute 2000 Watt bringt. Tatsächlich ist die Musik auch am anderen Ufer des Sees noch gut zu hören.

 

Die Lautstärke der Musik ist auch einer der Gründe dafür, warum sich in der Nachbarschaft zunehmend Widerstand gegen die tanzenden Omas regt. Sie treffen sich grundsätzlich in den Abendstunden – oder ganz früh am Morgen. Mancher Anwohner würde da vielleicht gerne schlafen – doch auf solche Langweiler können die tanzenden Großmütter keine Rücksicht nehmen.

 

Die Omas sind flächendeckend im ganzen Land aktiv. Schätzungen chinesischer Medien zufolge treffen sich jeden Tag über 100 Millionen Rentnerinnen zum Freilufttanzen. Ihr Alter rangiert von Mitte 50 bis Ende 80. Der Staat versucht zunehmend, die Tanzpartys einzudämmen – doch mit den Omas stehen den kommunistischen Bürokraten ungewöhnlich zähe Gegner gegenüber.

 

Der Generationenkonflikt konzentriert sich in China mehr und mehr auf diese Omas, weil sie ein besonders gut sichtbares (und hörbares) Beispiel für den Unterschied der Generationen sind. Die Tänzerinnen gehören zur Generation der Kulturrevolution: Wer in den 40er- und 50er-Jahren in China geboren wurde, ist als junge Erwachsene in der Dekade ab 1966 unter die Mitkämpferinnen und Opfer dieses sozialen Experiments gerutscht. Diktator Mao Zedong hetzte damals die Jugend gegen ihre Eltern und Lehrer auf – und ließ Teenager aus der Stadt zu harter Arbeit aufs Land schicken. Das Ergebnis waren Millionen von gebrochene Biographien.

 

Heute, als Großeltern, gelten die Angehörigen dieser Generation als besonders lebenshungrig und neugierig, aber auch als ein dreist: Sie haben so viele Veränderungen in Ideologie, gesellschaftlichen Regeln und Lebensweise erlebt, dass sie sich nur noch ungern etwas sagen lassen. Mal galt der totale Kommunismus, dann plötzlich Marktwirtschaft. Damals gab es weit und breit kein Telefon, heute hängen sie am smarten Handy. China ist von einem Entwicklungsland überraschend zur modernen Weltmacht aufgestiegen.

 

Die Omas nehmen sich da einfach, was sie gut finden. Jetzt wollen sie tanzen. Die Treffen zur laut plärrenden Musik sind gesellig, kostengünstig und „machen riesigen Spaß“, wie Wang Shufeng sagt. Überall in China muss der Besucher bloß seinem Ohr folgen, um die Omas auf den öffentlichen Plätzen zu finden: in Wüstenstädten der zentralasiatischen Provinz Qinghai genauso wie unter der glitzernden Skyline Shanghais.

 

Was sich ihnen in den Weg stellt, wird weggeräumt: In der alten Kaiserstadt Xi’an haben unlängst einige ahnungslose Autofahrer ihre Wagen abends auf einem bevorzugten Tanzplatz abgestellt – und die Omas haben die Ärmel ihrer mit Pailletten und Glitzersteinen besetzten Blusen und Strickpullover aufgerollt, die Hinterachsen der Autos angehoben und sie kurzerhand weggeschoben, darunter ein Lieferwagen.

 

Die Anwohner der Plätze, die die Omas als Tanzplätze aussuchen, greifen unterdessen zu immer drastischeren Mitteln. In der zentralchinesischen Stadt Wuhan haben sie Nachttöpfe mit Fäkalien auf die Tänzerinnen ausgeleert. Andernorts sollen schon Schüsse gefallen sein.

 

Die Omas mussten sich von vielen Plätzen bereits vertreiben lassen. Im Pekinger Stadtteil Sanlitun hatte sie vor zwei Jahren die Freifläche zwischen einem Wohnblock und Verkaufsräumen von Luxusmarken wie Bentley für sich in Beschlag genommen. Wachmänner von beiden Seiten vertreiben die Alten nun jedoch, sobald sie sich blicken lassen. Es war ein harter Kampf, bis ihnen der Ort endgültig verleidet war, sagt heute ein Mitarbeiter der zuständigen Sicherheitsfirma.

 

Die Regierung in Peking hat als Ziel die „soziale Harmonie“ im Land – und wollte in gut sozialistischer Manier durch Anweisungen und Regulierungen in den Konflikt zwischen Omas und Anwohnern eingreifen. Sie hat im Frühjahr eine Liste von zwölf „korrekten“ Tänzen erlassen, auf die sich die Tänzerinnen künftig beschränken sollen – und gleich die passenden Lehrvideos dazu ins Internet gestellt. Truppen von „Nachbarschafts-Tanzlehrern“ sollten ausschwärmen und Choreographien unterrichten, die eine Kommission entwickelt hat. Ziel sei eine „national einheitliche Aktivität“, die den Senioren „positive Energie“ schenke, verkündeten Propagandamedien. Unnötig zu sagen, dass sich auch ein halbes Jahr später kaum eine Tanzgruppe an die Anweisungen der Bürokraten hält.

 

Doch der neue Kulturkampf der selbstbewussten Omas gegen die jüngere Generation und den Staat ist noch nicht ausgefochten. „Tänze auf öffentlichen Plätzen sind grundsätzlich kein Problem. Sie repräsentieren die kollektiven Aspekte der chinesischen Kultur“, sagt Liu Guoyong von den zentralen Sportbehörde. „Aber die Teilnehmer übertreiben es, sodass wir Klagen über Geräuschbelästigung erhalten.“ Es sei nötig, mit weiteren Regulierungen einzugreifen. Demnächst könnte Peking beispielsweise Beschränkungen für die maximale Lautstärke oder erlaubte Tageszeiten festlegen.

 

Die Sportbehörde will zunächst auch Wettbewerbe der Tanzgruppen organisieren – komplett mit Jury und Preisgeld. Doch all das läuft gegen den Geist des öffentlichen Tanzens. „Wir machen das ja gerade, um uns ganz locker zu treffen – frei von Regeln, davon gibt es schon genug“, sagt Frau Wang, die in Peking den CD-Player bedient. Und dreht die Musik noch etwas lauter.

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