10. Nov
China erlebt den größten Konsumrausch aller Zeiten
Das Land steigert sich am 11.11. in Shopping-Wahn – Händler bieten extreme Rabatte
Peking. Tina Su hat ihre Online-Einkäufe der vergangenen zwei Wochen versuchsweise in ihrem Wohnzimmer ausgebreitet. Die Sammlung von Gegenständen bedeckt den Teppich, den Kaffeetisch und einen Teil des Sofas: Schuhe, Strickwaren, Cremes, Lippenstifte, Schönheitspillen, Katzenfutter, Wasserfilter – insgesamt 37 Teile im Wert von 2500 Euro. „Dabei habe ich mich noch zurückgehalten, am Mittwoch gibt es schließlich Rabatt“, sagt Tina.
Die 30-Jährige arbeitet bei einer Denkfabrik in Peking, wo sie genug verdient, um im Monat mehrere Tausend Euro für Bestellungen auszugeben. In der Nacht vom 10. auf den 11. November wird sie mit feuchten Händen vor dem PC hängen und Sonderangebote in ihren Einkaufskorb klicken. „Ich bin nicht süchtig nach Online-Shopping!“, versichert sie, „Aber ich will auf den Kick nicht verzichten.“
Jedes Jahr im November bricht China in einen beispiellosen Kaufrausch aus. Das Phänomen hat vor sechs Jahren begonnen, als der Internethändler Alibaba am 11.11. Rabatte von 50 Prozent auf Tausende von Artikeln angeboten hat. Ursprünglich war das als Trostpflaster für einsame Herzen angepriesen, denn dieser Tag gilt in China als „Single Day“ – wegen der vielen Einsen im Datum. Alibaba hat die Aktion dann jedes Jahr weiter ausgeweitet. Im vergangenen Jahr hatte das Unternehmen bereits eine Million Artikel heruntergesetzt – und so Waren im Wert von gut acht Milliarden Euro losgeschlagen.
In diesem Jahr werden es voraussichtlich 12 oder 13 Milliarden sein, schätzt die Forschungsfirma eMarketer. Die Chinesen sind an normalen Tagen schon begeisterte Konsumenten, aber am Single Day rastet bei ihnen alles aus. Zum Vergleich: Alibaba macht auf seinen Shopping-Seiten am 11. November allein zweimal mehr Umsatz als E-Bay weltweit in einem ganzen Monat. Die chinesische Post bereitet sich bereits darauf vor, in den kommenden Tagen 760 Millionen Päckchen zuzustellen. Alibaba selbst rechnet vor, dass 1,7 Millionen Zusteller, 5000 Logistik-Zentren und 200 Flugzeuge an der Verteilung der Sendungen beteiligt sein werden.
All das, um Menschen wie Tina Su glücklich zu machen. Sie kommt aus einer reichen Familie – und hat entsprechende Ansprüche. „Ich habe immer das Gefühl, nichts passendes zum Anziehen zu haben“, klagt sie. Einen kleineren Raum in ihrer Wohnung hat sie zu einem begehbaren Kleiderschrank umbauen lassen, um ihre Blusen, Kleider, Schuhe, Röcke, Hosen lagern zu können. Sie bestellt oft verschiedene Farben des gleichen Teils gemeinsam, um später besser kombinieren zu können.
Tina verbringt täglich etwa zwei Stunden auf Shopping-Websites. Wenn dann die Päckchen kommen, ist das für sie ein ganz großes Gefühl. „Wenn die Teile noch besser aussehen als erwartet, wenn alles passt, ist das total befriedigend.“ Sie geht durchaus noch in normale Läden: zum Anprobieren, und um sich von den Verkäufern beraten zu lassen. Danach bestellt sie aber immer online. „Für viele Luxusartikel ist der Preis offline doppelt so hoch wie online“, sagt sie und streicht über ein elfenbeinfarbenes Paar Pumps von Manolo Blahnik. Für gute 500 Euro sind sie ein absolutes Schnäppchen, wie Tina versichert.
Der „Single Day“ hat sich längst von seinen Ursprüngen als Tag der Alleinstehenden gelöst. Für Tina Su ist Online-Shopping sogar eine soziale Freizeitbeschäftigung. Sie schickt ständig Links zu Produkten an ihre Freundinnen, um zu diskutieren, was am besten aussehen könnte. „Mädels brauchen so viele Sachen, Jungs werden das Ausmaß des Gesprächsbedarfs nie verstehen.“ Im Chat feuern sie sich dann gegenseitig zum Bestellen an. Und die Aktionäre von Alibaba werden wieder ein bisschen reicher.