18. Jul
Japan zieht dem Raumschiff den Stecker
Tokios neues Vorzeige-Stadion sollte die teuerste Sportstätte der Welt zu werden – jetzt zieht die Regierung die Notbremse, gefährdet dadurch aber den Zeitplan
Tokio. Ein Raumschiff aus Star Wars? Ein überdimensionaler Fahrradhelm? Ein neuer Staubsaugroboter? Im Internet überbieten sich japanische Photoshop-Könner mit witzigen Umdeutungen eines Entwurfs für das Stadions für die olympischen Spiele 2020 in Tokio. Der Spott gilt einem Projekt, das innerhalb weniger Monate von Budget und Aufwand her völlig aus den Fugen geraten ist – und das jetzt möglicherweise lediglich als Kuriosität in der Geschichte der Olympia-Planung eingeht.
Denn am Freitag hat die japanische Regierung nach wochenlangem Streit die Notbremse gezogen. „Wir fangen noch einmal bei Null an“, kündigte Japans Regierungschef Shinzo Abe am Freitag an. Die Organisatoren hatten Anfang Juli eine neue Kostenschätzung für den Wettkampfort vorgestellt – und einen Schock ausgelöst: Die Budgetforderung von 252 Milliarden Yuan (1,8 Milliarden Euro) lag zweimal höher als die ursprüngliche Schätzung.
Zum Vergleich: Die Allianz-Arena in München und das spektakuläre „Vogelnest“ in Peking haben beide nur gut 300 Millionen Euro gekostet. Beide Stadien haben eine vergleichbare Größe und gelten als ausgesprochene Zierde ihrer jeweiligen Städte – zu einem Sechstel des Preises des Tokioter Plans.
Einen so überproportional teuren Bau kann Abe dem japanischen Steuerzahler nicht zumuten, zumal Nippon dem Olympia-Projekt des Regierungschefs eher lauwarm gegenübersteht. „Ich habe mir einen Monat lang Stimmen aus dem Volk und Expertenmeinungen angehört“, sagte Abe. Es sei unumgänglich, ans Reißbrett zurückzukehren.
Doch nun tauchen neue Sorgen auf. Die Ausschreibung und Planung eines völlig neuen Entwurfs dauert Monate. Wenn es erst 2016 losgeht, haben die Arbeiter aber nur noch vier Jahre Zeit, um den Bau hochzuziehen. Die ersten Veranstaltungen im Zusammenhang mit den olympischen Spielen sind für Frühjahr 2020 geplant. Abe selbst hatte erst vergangene Woche im Parlament den alten Entwurf mit dem Argument verteidigt, dass der Neubau sonst mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht rechtzeitig fertig werde. Jetzt drängt er stattdessen zu höchster Eile.
Die Organisatoren der Rugby-Weltmeisterschaft 2019 in Tokio sind jetzt schon entsetzt: Sie hatten das neue Stadion bereits als prestigeträchtigen Austragungsort in die Verträge mit dem Weltverband hineingeschrieben. Eine Fertigstellung bis 2019 gilt jedoch als ausgeschlossen, seit Abe den alten Stadion-Entwurf kassiert hat. Die Rugby-Funktionäre müssen nun eine andere Arena finden, in die mindestens 60.000 Zuschauer hineinpassen.
Das neue Olympiastadion sollte 80.000 Plätze haben und damit ein ganzes Stück größer sein als die Allianz-Arena mit 70.000 Sitzen. Es wird jedoch nicht zu den größten Stadien der Welt gehören, die mehr als 100.000 Zuschauern Platz bieten.
Die Olympia-Planer geben der aufwändigen Architektur und dem strengen Zeitplan die Schuld für das Kosten-Debakel. Der Plan für das Stadion stammt von der irakisch-britischen Architektin Zaha Hadid. Vielleicht wollte sie den Science-Fiction-begeisterten Japanern etwas Gutes tun, aber ihr Entwurf war extrem futuristisch und ehrgeizig ausgefallen. Zwei Bögen spannen sich kühn über viel Luft. Als die Pläne herauskamen, verglichen Internetnutzer das Aussehen jedoch bereits wahlweise mit einem Staubsaugroboter oder einem Fahrradhelm. „Es wird ein Teil des Stoffs, aus dem die Stadt gewebt ist“, dichtete unverdrossen das Architekturbüro. „Ein urbaner Nexus, der den Menschenfluss verstärkt und moduliert.“
Vor genau einem Jahr kam jedoch die erste Ernüchterung. Zaha Hadid musste überarbeitete Pläne vorlegen. Die Kosten von über einer Milliarde Euro erschienen damals bereits exorbitant. Die Architektin hat daraufhin die Grundfläche verkleinert und die Höhe der Bögen abgesenkt. Doch das hat die Kostenexplosion in der konkreten Planung nicht verhindert. Das Architekturbüro gibt die Schuld an der Umkehr nun jedoch der Presse: Die „negative Berichterstattung“ sei an den Zweifeln der Japaner schuld, klagte Jim Heverin, der Projekteleiter bei Zaha Hadid.
Tatsächlich sprechen die harten Zahlen für sich. Der Entwurf von Zaha Hadid wäre vermutlich das erste Stadion in der Geschichte des Sports geworden, das mehr als zwei Milliarden US-Dollar kosten sollte. „Die Kosten steigen dann meist während des Baus noch weiter an“, sagt Ökonom Andrew Zimbalist vom Smith College in Massachusetts gegenüber japanischen Medien. Im Unterschied zu deutschen Fußballstadien ist die Weiternutzung zudem unklar. Es ist höchst wahrscheinlich, dass der Neubau – wie auch immer er am Ende aussehen wird – nach 2020 kein Geld verdient und einfach nur teuer im Stadtviertel Shinjuku herumsteht.
Abe hatte sich am Freitag an seinem Amtssitz länger mit dem Vorsitzenden des Organisationskomitees für Olympia 2020, Yoshiro Mori, verschanzt, um zu einer Entscheidung zu kommen. Er gab dem Sportminister danach sofort den Auftrag, mit den Vorbereitungen für eine neue Ausschreibung zu beginnen.
Es war nicht nur der Spott der Netzgemeinde, der die Kehrtwende verursacht hat. Sogar die eigene Partei war im Parlament gegen die Budgetüberziehung Sturm gelaufen. „Die Kosten müssen runter!“, hatte der ehemalige Wirtschaftsminister Toshihiro Nikai gefordert. Er befürworte die Spiele – doch nicht zu jedem Preis.
So ähnlich geht es einer Mehrheit der Japaner. Die Nation, die noch die Verletzungen nach dem verheerenden Tsunami im Jahr 2011 verarbeitet, war stolz, die Spiele zu bekommen. Doch Japan kämpft mit Strukturproblemen und hohen Schulden. Die Steuern steigern ohnehin schon schneller, als für die Wirtschaft gut ist. In Umfragen wünschen die Leute sich repräsentative, aber moderate Spiele.
Damit ist die Lage anders als 1959, als Tokio zum ersten Mal Olympia zugesprochen bekam. „Eine Welle der Freude läuft durch die Nation!“, schrieb damals die Yomiuri-Zeitung. Japan konnte sich nach Krieg und Wirtschaftswunder als erfolgreiches, modernes Land präsentieren. Geld spielte keine Rolle. Der damalige IOC-Vorsitzende Otto Mayer lobte Japan schon im Vorfeld: „Das Land hat exzellente Einrichtungen und unerschöpfliches Organisationstalent. Es ist bestens ausgestattet, um eine Olympiade zu veranstalten.“
Die Planung für 2020 hat nun dagegen mit einem organisatorischen Debakel begonnen – offenbar haben die Beteiligten bei der Berechnung der Kosten völlig versagt. Ein Neubau muss jedoch nun auf jeden Fall her. Anders als Berlin hat sich Tokio entschieden, das Stadion seiner ersten olympischen Spiele abzureißen. In Shinjuku nagen seit Ende vergangenen Jahres Bagger und Abrissbirnen an dem traditionsreichen Austragungsort der Spiele von 1964.