22. Okt
Nordkorea: Ekstase für den Führer
Diktator Kim Jong-un hat Nordkorea fest im Griff – und erlaubt sich zunehmend Drohungen gegen die Weltgemeinschaft
Pjöngjang. Die junge Frau reißt die Augen weit auf, so als wäre sie ungeheuer erschrocken. Es ist glühende Verehrung, die sie so intensiv packt, dass ihre Reaktion kaum von einem Schock unterscheidbar ist. Nur lange Übung ermöglicht es ihr, eine schwierige Kombination von Bewegungen exakt im Takt fortzusetzen, so wie es von ihr erwartet wird. Sie marschiert im Gleichschritt geradeaus, schaut dabei zur Seite und schwenkt zugleich zwei Puschel mit Plastikblumen.
„Hoch lebe der Genosse Kim Jong-un“, ruft Son aus voller Kehle, und ihre Stimme ist – wie sie selbst – in diesem Moment nur Teil eines viel größeren Körpers: der Masse, die ihrem Führer huldigt. Es ist eine besondere Ehre für Son Jung-mi, in der ersten Reihe marschieren zu dürfen. Da sie ganz vorne mitläuft, könnte der Blick des Führers von seiner Tribüne auf sie fallen und sie für einen Augenblick herausheben aus den Zehntausenden von Menschen, die hier einen menschlichen Gott anbeten.
Nach der Parade ist Son Jung-mi erschöpft, aber glücklich. „Der Jahrestag der Parteigründung ist eine große Freude für das ganze Volk“, sagt die 25-Jährige dem Reporter dieser Zeitung. „Teilen Sie der Welt mit, welch ruhmreiches Glück der Genosse Kim Jong-un für uns bedeutet!“ Ob sie glaubt, dass Kim sie in der Menge bemerkt hat? Sie kichert. „Wichtig ist, dass die Volksmasse den Führer unterstützt!“. Diese Sprüche bringt sie flüssig und ohne jedes Nachdenken.
Am Samstag hat Nordkorea in seiner Hauptstadt Pjöngjang den siebzigsten Jahrestag der Gründung der Arbeiterpartei gefeiert, die das Land unangefochten regiert. Brennpunkt der Massenveranstaltungen war Machthaber Kim Jong-un. Auf dem zentralen Platz der Hauptstadt, benannt nach Staatsgründer Kim Il-sung und so groß wie ein Flugplatz, hat Kim zunächst die größte Militärparade in der Geschichte des Landes abgenommen. Dann betrachtete er den Massenaufmarsch, an dem Son Jung-mi teilgenommen hat. Am Abend haben ihm nochmals über 100.000 Schüler, Studenten und Arbeiter mit einem Fackelumzug gehuldigt.
Die Veranstaltung war auch im Land der Massenaufmärsche etwas Besonderes. Die Propaganda rückt Kim Jong-un mehr in den Mittelpunkt als zuvor. Der junge Machthaber benötigt für seine Legitimation immer noch die Unterstützung zweier Toter: seines verstorbenen Vaters und Großvaters, die das Land ebenfalls allein regiert haben. Bei dieser Parade trug das Volk zwar immer noch Bildnisse der beiden älteren Kims vorbei. Doch Höhepunkt war diesmal jedoch zum ersten Mal eine riesige Heiligendarstellung des Enkels.
Erstmals hielt Kim Jong-un auch eine längere Rede. In über 20 Minuten legte er das Verhältnis der Partei zum Volk da: Die Partei diene dem Volk, doch sie habe auch eine klare Führungsrolle und erwarte dafür Loyalität. Dafür verspricht Kim seinen Landsleuten Schutz „wie ein mütterlicher Körper“. „Unsere Armee ist stark geworden“, rief er aus. „Sie kann unser Land vor jeder denkbaren Bedrohung schützen. Wenn die Imperialisten aggressiv werden, stehen wir bereit, uns zu verteidigen.“
Danach gab er das Signal zum Beginn der Militärparade. Soldaten in Uniformen der 50-Jahre sollten an den Koreakrieg erinnern, der mit einem Waffenstillstand – nicht aber einem Friedensschluss – mit den USA geendet hat. Dann zeigte die Armee modernes Kriegsgerät, darunter eine neue Generation von Interkontinentalraketen. Analysten bezweifeln jedoch, ob diese auch sicher ins Ziel fliegen können. Vermutlich sind die Ausstellungsstücke eher ein Vorgriff auf Fähigkeiten, die sich noch in der Entwicklung befinden. Dazwischen marschierten Soldatinnen und Soldaten aller Truppengattungen im zackigen Stechschritt vorbei – zwei Stunden lang.
Kim wollte seinem Volk und dem Ausland bei dieser Gelegenheit auch demonstrieren, dass er mit seiner militaristischen Politik nicht isoliert dasteht. Mit ihm auf der Tribüne saß der Abgesandte Chinas, Liu Yunshan, ein Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei des Nachbarlandes. Kim bezog Liu betont auffällig mit ein und forderte ihn beispielsweise auf, mit ihm zusammen die Fäuste zum Gruß an das Volk zu recken. Als Gast konnte Liu ihm das nicht abschlagen, doch war ihm ein gewisser Unwille anzumerken.
Der Auftritt Lius markiert eher das Minimum chinesischer Beteiligung am Jubeltag des Partnerlandes und bedeutet mitnichten, dass sich die Beziehungen der Länder wieder deutlich verbessern. China ist derzeit mit Kim unzufrieden: Der junge Diktator lässt das Kernwaffenprogramm des Landes konsequent vorantreiben, während Peking keine neue Atommacht in der Region wünscht. Kim setzt hier eine klare Priorität: Er verfolgt eine Politik der Stärke. Würde er abrüsten, könnte er zwar die Aufhebung von Sanktionen und Auslandsinvestitionen erwarten, die der Wirtschaft einen gewaltigen Schub geben würden. Kim will sich jedoch stattdessen durch nukleare Abschreckung unangreifbar machen – und zugleich der Schrecken der Region werden. Experten erwarten für die kommenden Monate weitere Tests von Trägerraketen oder Atombomben.
Das Volk erwartet von ihm durchaus eine Politik der nationalen Stärke – so zumindest suggeriert es die Propaganda. Als Kim von seiner Tribüne aus von „Unbesiegbarkeit“ spricht, jubelt ihm die Masse zu. Während seiner Rede stehen Zehntausende von Soldaten, Arbeitern, Schülern und Studenten auf dem Kim Il-sung-Platz stramm, die Gesichter voller Verehrung und konzentrierter Aufmerksamkeit auf diesen einen Punkt gerichtet, auf ihr Idol, ihren Gott.