17. Jun
Realismus statt Liebe
Chinas junge Generation geht an die Partnerwahl scheinbar extrem pragmatisch heran – dahinter verbirgt sich jedoch eine kaum stillbare Sehnsucht nach Romantik
Peking. Die Frage kommt manchmal mehrfach am Tag: „Bist Du schon verheiratet?“ Sie gehört zu den Fixpunkten der Konversation in China. Wildfremde Menschen, vom Taxifahrer bis zur Partybekanntschaft, interessieren sich vor allem dafür, ob das Gegenüber schon ein richtiges Mitglied der Gesellschaft ist – oder noch ein vermeintlich verantwortungsloser Single.
„Diese Fragerei nervt mich inzwischen ohne Ende“, sagt Zou Yi, 30 Jahre alt, patent, Jeans, Sneaker, Polizeischülerin in Peking. „Vor allem, wenn sie mit Hinweis auf potentielle Heiratskandidaten von meinen Eltern kommt.“
In ihrem Alter sollte Zou nach chinesischer Vorstellung schon mehrere Jahre verheiratet sein. Wenn sie zugibt, noch ungebunden zu sein, zieht mancher Gesprächspartner kritisch die Augenbrauen zusammen. Ihre Mutter gerät derweil schon in Panik. Was, wenn ihre Tochter unter die „übriggebliebenen Frauen“ gerät? Schließlich gelten Frauen schon ab 27 als schwer vermittelbar.
Die Einstellung junger Chinesen zur Liebe irritiert ihre Eltern ebenso wie Beobachter aus Europa – wenn auch aus völlig gegensätzlichen Gründen. Auf den ersten Blick wirken die heutigen Mittzwanziger unglaublich materialistisch. Die Ehe dient für sie vor allem der Sicherung und Mehrung des Wohlstands. Frauen erwarten, dass Männer mit einem dicken Auto, einer großen eigenen Wohnung und einem sicheren Job aufwarten. Die Männer versuchen ihrerseits, möglichst klug zu heiraten – ein Schwiegervater mit guten Geschäftsbeziehungen ist ein dickes Plus.
In einer Umfrage der Webseite Renminwang zeigen knappe 70 Prozent der jungen Befragten Verständnis für die Aussage: „Ich will lieber in einem BMW weinen als auf einem Fahrrad lachen.“ Diesen Spruch hatte die Kandidatin einer Dating-Show gebracht, um ihre Wahl unter den angetretenen Junggesellen zu begründen. Sie hatte sich für einen unsympathischen Reichen entschieden statt für einen der ärmeren, aber netteren Männer. In einer anderen Umfrage sagten 63 Prozent von 80.000 Teilnehmern, dass finanzielle Absicherung die wichtigste Voraussetzung für die Ehe sei.
Diese materialistische Grundhaltung findet grundsätzlich die volle Unterstützung der Eltern. Doch ein anderer Trend passt diesen zugleich gar nicht: Die jungen Chinesen wollen aus den Nützlichkeitsdenken ausbrechen, das die Einstellung zur Ehe über Jahrtausende geprägt hat. Vielleicht ist es der Einfluss von Hollywood-Filmen und anderer Produkte der westlich-dekadenten Kulturindustrie. Jedenfalls ist Romantik plötzlich wichtig geworden. Ein reicher Mann soll her – aber dann wird in weiß geheiratet und lieb gekuschelt!
Die Änderung der Vorstellungen zeigt sich auch in den Themen der schnulzigen chinesischen TV-Serien. „In den 80er-Jahren wurde vor allem gezeigt, wie Eheleute trotz Konflikten um jeden Preis zusammenblieben“, sagt Zhang Wei, Professor an der Pekinger Filmhochschule. Inzwischen gehe es mehr darum, die Richtige oder den Richtigen zu finden. „Liebe ist ebenfalls wichtiger geworden“, beobachtet Zhang.
Polizeischülerin Zou Yi sucht am ehesten nach einer verwandten Seele. „Wir sind anders als unsere Eltern. Für uns gilt nicht mehr: so schnell wie möglich Ehe und Kinder, und damit ist das Leben erfüllt.“ Sie suche einen Mann, mit dem sie sich auf tieferer Ebene verstehe. Deshalb ist sie überhaupt aus ihrer Heimat Jiangxi nach Peking gezogen. „Dort gab es keine Auswahl an geeigneten Jungs.“ Außerdem wollte sie einigen Abstand zu ihren nervenden Eltern gewinnen.
In früheren Zeiten war Partnerwahl in China im Prinzip recht einfach. Meist vermittelte eine Tante den passenden Partner. Wenn die jungen Leute sich auch nur einigermaßen miteinander verstanden, stand der Heirat nichts im Wege. Sozialer Aufstieg war durchaus ein Plus, aber es war die Regel, einfach in der eigenen Schicht zu bleiben. Die derart sachlich vermittelten Eheleute fanden dann im Laufe der Jahre meist schon irgendwie zueinander.
Heute ist die Sache durch die vielschichtigen Ansprüche enorm kompliziert geworden. Die Partnerin oder der Partner soll ja nicht nur einen super bezahlten Job haben, sondern auch gut aussehen und zärtlich sein. Trotz Männerüberschuss ist die Lage dabei für die Männer grundsätzlich etwas einfacher: Für sie ist es auch akzeptiert, wenn sie ein hübsches, aber wenig begütertes Mädchen wählen.
Die Frauen in den Städten scheitern dagegen immer öfter an den Anforderungen. Es geht hier gar nicht um die Chefärztinnen, sondern auch um einfache Büroangestellte, die noch dem Dreiklang suchen: „Gao – Fu – Shuai“: Hochgewachsen, reich, gutaussehend.
Die Hektik ist groß. Wer es nicht schafft, sich ein so seltenes Exemplar zu sichern, könnte als „übriggebliebene Ware“ scheitern – dieses Schlagwort bezeichnet unverheiratete Frauen über 30. Und aus Sicht der chinesischen Gesellschaft ist das ein Scheitern. Selbst Schwule und Lesben heiraten hier in der Regel immer noch einen andersgeschlechtlichen Partner, nur, um den Schein zu wahren.
Die junge Generation hat damit den bestehenden Kriterien noch Liebe und Romantik hinzugefügt, ohne dass es ihr gelungen wäre, den gesellschaftlichen Zwang zur Heirat abzuschütteln. Praktisch alle, die in den 80er- und 90er-Jahren geboren sind, berichten übereinstimmend von dem Stress, unter den sie diese Konstellation setzt. Dagegen ist denjenigen, die sich in die vorgegebenen Rollenbilder brav einfügen, deutliche Erleichterung anzumerken. Heirat Mitte Zwanzig, Erfüllung der Frauen- und Männerrollen und Kinderkriegen. „Für Liebe“, sagt eine Angestellte in Peking, „ist da in der Praxis leider kaum noch Platz.“