16. Mai
„Ich habe meine Mutter auf dem Gewissen“
Vor 50 Jahren begann Chinas Kulturrevolution – eines der wahnwitzigsten sozialen Experimente der Menschheitsgeschichte. Sie hat in der chinesischen Psyche tiefe Spuren hinterlassen.
Peking. Er zitterte am ganzen Körper vor Angst, Zorn, Anspannung und Kälte. Zhang Hongbing hatte gerade seine Mutter beim Militärkommissar des Wohnblocks angezeigt. Nun wartete er in einer Ecke zusammengekauert auf ihre Verhaftung. Er hielt das Verbrechen der Mutter für ungeheuerlich: Sie hatte schlecht über den Großen Vorsitzenden Mao geredet. Zhang liebte Mao Zedong glühend, viel mehr als seine Eltern. Er war 16 Jahre alt.
Der Junge musste nicht lange warten, bis sie kamen. Der Militärkommissar hatte mehrere uniformierte Männer mitgebracht, um die wehrlose Frau zu verhaften. Sie traten sie, fesselten sie mit Seilen und schleppten sie fort. Zwei Monate später wurde sie von einem öffentlichen Tribunal zum Tode verurteilt und sofort hingerichtet. Zhang war erst stolz, doch schon wenige Monate später kamen Reue, Schuldgefühle, Alpträume und Depressionen. „Ich wünsche mir so sehr, dass meine Mutter mir verzeiht“, sagt Zhang heute. „Aber was soll ich tun, um das je wieder gut zu machen?“
Zhang Hongbing ist ein Extremfall, doch in China ist eine ganze Generation mehr oder minder von den Schrecken der Kulturrevolution gezeichnet. Am 16. Mai 1966, vor fünfzig Jahren, hat Machthaber Mao Zedong diese Massenkampagne von geschichtlich beispiellosen Ausmaßen losgetreten. Die Jugend sollte alle alten Sitten und Gebräuche auslöschen und eine neue sozialistische Kultur schaffen. Eltern, Professoren, Polizisten, Ärzte – keiner war vor dem Wahn der fanatisierten Teenager sicher.
Zu Millionen versammelten sie sich in Peking auf dem Tiananmen-Platz, um die Reden Maos zu hören und jubelnd das rote Buch mit seinen Sprüchen zu schwenken. Mittelstufenschüler schlugen ihre Lehrer zusammen, hängten ihnen Plakate mit Anschuldigungen um und trieben sie durch die Straßen. Tempel und Bibliotheken brannten. Das Chaos hielt zehn Jahre lang an – bis zu Maos Tod.
Begonnen hatte alles mit der Eitelkeit eines alten Mannes. Mao war im Jahr 1966 zwar immer noch der gottgleich verehrte Führer Chinas. Doch eine jüngere Generation von Kommunisten hatten den 72-Jährigen in eine symbolische Rolle abgeschoben und wollte Reformen umsetzen. Den alternden Diktator drängte es, noch einmal seine Macht über die Menschen beweisen. Den Reformern unterstellte er, sie haben den Kapitalismus und die bürgerliche Gesellschaft wieder einführen wollten.
Mit der Kulturrevolution gelang es Mao, wieder im Mittelpunkt zu stehen und das ganze Land ins Chaos zu stürzen. „Jede Ordnung war aufgelöst, es galt kein Recht mehr“, sagt Zhang. Er hat später Jura studiert und arbeitet heute im Hauptberuf als Anwalt – um etwas für den Rechtsstaat zu tun. Die meiste Zeit widmet er sich allerdings seinem persönlichen Kreuzzeug für die Aufarbeitung der Geschichte. „Ich hoffe, dass sich solche Tragödien in China nicht wiederholt“, sagt Zhang.
Zhang Hongbins Mutter, Fang Zhongmou, war vermutlich die vernünftigste Person in der Familie. Sie sprach in der Familie positiv über die Reformpolitik. „Warum müssen eigentlich überall Mao-Portraits hängen?“, so stellte sie den Personenkult um den Diktator in Frage. Sowohl ihr Mann als auch ihr Sohn waren entsetzt, als sie die Mutter so sprechen hörten. Am Ende denunzierten sie beide den Menschen, der ihnen eigentlich am nächsten stand.
Im April 1970 begann der öffentliche Prozess gegen Fang. Sie kniete auf einer Bühne, während ein bewaffneter Mann hielt sie an den Haaren festhielt und zu Geständnissen zwang. Danach folgte die Erschießung. Fang Zhoumou wurde nur 44 Jahre alt.
Die Generation der Kulturrevolution, ihre Kinder und ihre Enkel sind heute immer noch psychisch von den Ereignissen beschädigt. Nachdem ihnen klar wurde, wie sehr Mao und die Propaganda sie belogen hatten, wurden sie generell misstrauisch – und glauben heute an gar nichts mehr. Zugleich haben die Gewaltorgien die Gesellschaft rücksichtslos gemacht. Der Respekt für andere Menschen hat gelitten. Wer sich rechtschaffen verhält, gilt in weiten Kreisen als dumm.
Selbst fünfzig Jahre später ist diese schreckliche Periode der chinesischen Geschichte auch politisch nicht bewältigt. Die Partei lässt sie die Geschichte durch Propaganda beschönigen. Das verheißt nichts Gutes für Zhang Hongbings großes Projekt: Er arbeitet an einem monumentalen Buch über die Gräueltaten jener Zeit. „Ich suche darin nach einer Antwort auf die Frage, wie so etwas in China passieren konnte.“ Nun beunruhigt ihn ein aktueller Trend: Eine Welle der Nostalgie für Mao und die Zeit der Kulturrevolution. „Wenn ich sowas höre, werde ich pessimistisch.“