20. Aug

Tektonische Verschiebung an den Märkten

Die chinesische Börse gibt plötzlich weltweit den Takt vor. Wie konnte es so schnell dahin kommen?

Ist die Wall Street noch die weltweite Leitbörse? Derzeit sieht es so aus, als hätte Shanghai diese Rolle bereits übernommen. Kursverluste in China können innerhalb von Stunden die Aktienmärkte rund um den Globus tief ins Minus ziehen. Und das, obwohl Chinas Börsen wegen strenger Kapitalkontrollen mit den internationalen Handelsplätzen nur wenig verflochten sind.

 

Es daher auch vor allem die Sorge um den Zustand der Realwirtschaft, die China so wichtig macht. „Die zwei Säulen der Weltwirtschaft waren in den vergangenen Jahren die chinesische Nachfrage und billiges Geld“, schreibt Frederic Neumann, Ökonom beim Bankhaus HSBC in Hongkong. „Beide Säulen haben nun Risse.“

 

Gerade die deutsche Wirtschaft hat stark auf die China-Karte gesetzt. Volkswagen verkauft jedes dritte Auto im Reich der Mitte und hat dort an 14 Standorten Fabriken gebaut. Die anderen Dax-Konzerne haben einen geringeren China-Anteil an Umsatz und Gewinn, doch für kaum ein größeres deutsches Unternehmen ist Fernost noch “weit weg“ – sondern meist eine wichtige Stütze des Geschäfts. Das gilt für Modefirmen ebenso wie für Maschinenbauer oder Chemiekonzerne. Kein Wunder, dass der deutsche Aktienindex Dax auf schlechte Nachrichten aus Fernost sichtbar reagiert.

 

China steht inzwischen für 15 Prozent des weltweiten Industrieausstoßes – und konsumiert zur Freude der Firmen auch zunehmend selbst. „Heute machen die Schwellenländer, und insbesondere China, einen viel höheren Anteil an der weltweiten Nachfrage aus als noch in den 90er-Jahren“, so Neumann. Ihr Anteil erreiche je nach Rechenweise 50 Prozent. „Das bedeutet, dass ein Rückgang in diesen Regionen die entwickelten Märkte viel stärker beeinflusst.“

 

Die Anleger haben den Absturz der chinesischen Aktienmärkte in diesem Zusammenhang jedoch überbewertet. Denn die Börse ist in China bei weitem nicht die Schaltstelle der Wirtschaft, die sie in Europa und mehr noch in den USA ist. Die Amerikaner legen mehr als die Hälfte ihres Ersparten in Aktien an. Und der Börsengang gilt als Ziel fast jeder Firmengründung. Der Markt ist der wichtigste Finanzierungskanal der Unternehmen. Nicht so in China: Weniger als ein Viertel der Ersparnisse stecken im Aktienmarkt, und der Bankkredit ist die wichtigste Geldquelle für Unternehmen. „Die Auswirkung des Börsenabsturzes auf die Nachfrage der Haushalte und die Realwirtschaft hält sich in Grenzen“, urteilen Analysten des Wertpapierhauses Nomura.

 

Chinas Haushalte haben zudem immer noch dermaßen viel Geld auf der hohen Kante, dass die meisten von ihnen nach dem Sinken der Börsenkurse noch reichlich übrig haben. Die ganze Börsen-Episode von Sommer 2014 bis Sommer 2015 hatte zudem seltsame Züge. Die Regierung hatte den Boom am Aktienmarkt selbst losgetreten. Sie verfolgte damit einem klaren Plan. Die Unternehmen sollten marktorientiertere Finanzierungsmöglichkeiten jenseits des Bankkredits erhalten. Die eifrigen chinesischen Sparer sollten zugleich neue Anlagemöglichkeiten bekommen. Premier Li Keqiang hat selbst in einer Rede den Startschuss gegeben – und damit im System der chinesischen Staatswirtschaft praktisch eine Garantie für steigende Kurse abgegeben. Peking hat sich daher auch immer wieder gegen sinkende Kurse gestemmt.

 

Vergeblich: Das Misstrauen gegenüber dem Börsencasino hat überwogen. Schließlich sind im gleichen Zeitraum das Wachstum, die Industrieproduktion und die Firmengewinne gesunken. Was sollte den Kursanstieg um 160 Prozent bis Juni rechtfertigen? Nun ist der Spuk ebenso schnell zu Ende gegangen, wie er angefangen hat.

 

Die chinesische Wirtschaft hat dennoch erhebliche Probleme. Taktgeber ist die Bauwirtschaft – und der Hausbau befindet sich immer noch im Abwärtstrend. In Zeiten der der allzu üppigen Konjunkturförderung von 2009 bis 2011 waren hunderte von Millionen von Wohnungen entstanden. Der Immobilienmarkt muss erst einmal Luft holen. Immobilien und Bau machen rund ein Fünftel der chinesischen Wirtschaft aus. Hier kommen die Einkommen her, mit denen sich die Verbraucher ihren VWs leisten.

 

Ein großer Crash ist dennoch mittelfristig nicht zu erwarten. „Die Wirtschaftsplaner haben noch reichlich Konjunkturmunition, sowohl auf Seite der Staatsausgaben als auch auf Seite der Geldpolitik“, sagt Qu Hongbin, China-Ökonom der HSBC. Schon jetzt stützt die Regierung den Arbeitsmarkt direkt durch den Bau von Eisenbahnen, U-Bahnen, Straßen und Wohnblöcken in der Provinz. Sie hat zum Beispiel gerade den Bau von sechs neuen Strecken für Hochgeschwindigkeitszüge im Wert von 40 Milliarden Euro angekündigt. In einer Datenbank für öffentlich-private Kofinanzierungen finden sich über 1000 geplante Projekte mit einem Volumen von 270 Milliarden Euro.

 

Auch die Freisetzung frischen Geldes bewegt sich in einem Rahmen, den viele Ökonomen für ungefährlich halten. Die Zentralbank hat zwar mehrfach den Mindestreservesatz gesenkt und erlaubt damit eine höhere Kreditvergabe. Dieser Wert sagt, welchen Anteil dessen, was sie verleihen, die Banken bei der Zentralbank hinterlegen müssen. Der Mindestreservesatz liegt in China immer noch bei 18 Prozent. Die Europäische Zentralbank hat ihn vor drei Jahren viel radikaler gesenkt: auf ein mageres Prozent. Die EZB will damit den Euro-Banken in der Krise helfen. China wirkt hier also immer noch seriöser als Europa.

 

All das stärkt letztlich die chinesische Position – und auch künftig werden die Börsen weltweit mehr und mehr auf Signale aus China reagieren. Doch gerade nach dem gescheiterten Experiment einer staatlichen gelenkten Stärkung des Aktienmarktes bleiben die etablierten Weltbörsen in New York, Frankfurt oder Tokio wichtiger. Gerade in turbulenten Zeiten bremst Peking meist die Öffnung der eigenen Märkte. Die weltweite Ansteckung an China-Turbulenzen bleibt daher vorerst eher ein psychologisches Phänomen.

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