4. Jun
„Unsere Gesellschaft ist eine leere Hülle“
Die „Tiananmen-Mütter“ fordern zum Jahrestag des Massakers von 1989 eine Aufarbeitung der Ereignisse – vorher könne China sich nicht weiterentwickeln
Peking. Die Mütter geben nicht auf. Auch 26 Jahre nach dem Trauma halten sie die Erinnerung wach. Soldaten haben mitten in Peking ihre Töchter und Söhne getötet – doch die Regierung verschweigt die Ereignisse. „Chinas Führung muss sich ihrer historischen Verantwortung stellen“, fordert die Gruppe der Tiananmen-Mütter dieser Tage in einem offenen Brief an die chinesische Regierung. „Die Opfer des Massakers können sonst nicht in Frieden ruhen.“
In der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989 rollten Panzer die „Straße des Langen Friedens“ im Zentrum Pekings entlang. Das Militär sollte junge Demonstranten zerstreuen, die den Platz des Himmlischen Friedens besetzt hielten und mehr Transparenz forderten. Der Platz selbst war zwar bereits geräumt, aber in den Straßen um ihn herum schossen die Soldaten auf Studenten, Schüler und andere Zivilisten.
Ob die Zahl der Toten unter 200 lag, wie Regierungsstellen behaupten, oder doch über 2000, wie Menschenrechtsgruppen sagen, bleibt ein Gegenstand von Diskussionen. Genauso die Bewertung des Militäreinsatzes: Die Staatszeitung „Global Times“ beispielsweise nennt die Ereignisse einen „Zwischenfall“, dessen heutige Wahrnehmung von „feindlichen ausländischen Kräften“ durch Bestechung von Augenzeugen verzerrt sei. Der Militäreinsatz ist diesem Verständnis nach nötig gewesen, um die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten.
Auch Sicht der Mütter der getöteten Jugendlichen handelt es sich um ein Massaker am eigenen Volk. Die „Tiananmen-Mütter“ Sie sind überzeugt, dass China nur vorankommen kann, wenn es die Ereignisse aufarbeitet. „Das Verstecken und Verschleiern seit 1989 hat die Gesellschaft als leere Hülle zurückgelassen.“ Wie könne die junge Generation ehrlich zu sich selbst und ihrem Land stehen, wenn die Politik so ein Geheimnis verschleppe?
Zu den Unterzeichnern des Aufrufs gehört auch Qi Zhiyong, heute 59 Jahre alt. Das linke Bein Qis endet da, wo das Knie sein sollte. Ärzte mussten es amputieren, nachdem er 1989 in Peking niedergeschossen wurde. Qi unterstützt die Tiananmen-Mütter, weil er mit ihnen ein gemeinsames Ziel verfolgt: Anerkennung der Fakten.
Der Weg nach Hause führte den Bauarbeiter im Juni 1989 am Tiananmen-Platz entlang. Soldaten kesselten ihn überraschend ein, auf der Hauptstraße rumpelten Panzer durch eine Menschenkette. „Die Leute klammerten sich aneinander, um die Panzer aufzuhalten, wurden aber einfach überfahren“, erinnert er sich.
Er flüchtete in eine Seitenstraße. Eine Einheit Soldaten setzte hinterher, schoss mit Sturmgewehren. Qi spürte, wie die Kugel in sein Bein einschlug.
Sein Arbeitgeber, ein Staatsbetrieb, trat später mit einem Angebot an ihn heran: Er erhalte 100.000 Yuan – damals eine hohe Summe – und gibt dafür vor, sein Bein bei einem Arbeitsunfall verloren zu haben. Qi lehnte ab: „Ich hätte mich selbst enttäuscht und mein Land.“
Die staatliche Verlogenheit im Umgang mit der Vergangenheit stört auch die Gruppe der Tiananmen-Mütter. In den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten haben sie sich zu einer politischen Kraft entwickelt. Die Mütter – und Väter – sind zwar selbst heute im achten Lebensjahrzehnt. Doch sie haben ihre Kinder nicht vergessen.
Da ist beispielsweise Ding Zilin, 78 Jahre alt. Vor der Tragödie war sie Philosophieprofessorin und Parteimitglied. Am Abend des 3. Juni hatte sich ihr Sohn, ein Oberschüler, auf dem Weg zum Tiananmen-Platz gemacht. Er war einer der ersten, die erschossen wurden.
Drohungen, Benachteiligungen – die rund 150 Mitglieder geben trotz allem keine Ruhe. Bis offiziell aufgeklärt ist, wer damals welche Befehle gab, bleibt für sie der Tod eines geliebten Menschen unaufgeklärt – eine offene Wunde.