7. Jun

Vergebliches Leid

Kinder in China: Wäre die Geburtenrate ohne Zwang auch gesunken?

Kinder in China: Freiwillig weniger Geburten

Ein Soziologe nennt Chinas Ein-Kind-Politik „gescheitert und nutzlos“ – ohne die strengen Strafen hätten die Eltern ebenfalls weniger Nachwuchs gezeugt

Peking. Die Lehrerin Qin Yi war schockiert, als die Behörden von ihr Anfang dieser Woche plötzlich eine Abtreibung verlangten. Die schwangere Frau war von der Provinz Anhui in das weiter westlich gelegene Guizhou gezogen. In ihrer Heimat durften Qin und ihr Mann ein weiteres Baby zeugen, obwohl beide bereits Kinder aus früheren Ehen hatten. In Guizhou ist das nicht erlaubt.

 

 

Das Paar ist jetzt ziemlich verzweifelt, wie die „South China Morning Post“ berichtet. Das Familienplanungsbüro stellt sie vor eine grausame Wahl: Wenn Qin das Kind nicht bis Ende des Monats abtreiben lässt, wird sie fristlos entlassen. Sie ist im fünften Monat.

 

Seit 35 Jahren leiden Millionen von Paaren in China unter der Ein-Kind-Politik. Bisher galt sie jedoch zugleich als notwendiges Übel. Hatte sie nicht eine Bevölkerungsexplosion verhindert und damit die Bekämpfung der Armut in China überhaupt erst möglich gemacht? Ein chinesischer Soziologe stellt diese Annahme nun in Frage. „Die Ein-Kind-Politik war unnötig und ist zudem gescheitert“, sagt Cai Yong, der derzeit an der University of North Carolina in den USA lehrt. Die Geburtenrate habe sich auch mit deutlich milderen Maßnahmen ausreichend senken lassen.

 

Cai ärgert sich von allem über eine oft wiederholte Behauptung der chinesischen Regierung: Die Ein-Kind-Politik habe die Geburt von 400 Millionen Babys verhindert. „Diese Zahl ist reine Propaganda, ein purer Mythos“, sagt Cai. Sie sei zustande gekommen, indem ein Statistiker die Geburtenrate der 50er-Jahre einfach bis in die Gegenwart verlängert haben. Doch in allen entwickelten Gesellschaften ist die Zahl der Kinder in diesem Zeitraum praktisch von alleine gefallen.

 

Geburtenrate in China. Quelle: Cai Yong

Geburtenrate in China. Quelle: Cai Yong

Wichtiger noch: Der Rückgang der chinesischen Geburtenrate lag gar nicht in der Ära der Ein-Kind-Politik. Tatsächlich ist die Zahl der Kinder pro Elternpaar bereits eine Dekade früher drastisch gesunken: in den 70er-Jahren. Anfang des Jahrzehnts kamen auf jede Frau im Schnitt sechs Kinder, gegen Ende waren es nur noch 2,8. Die Regierung hatte diesen Erfolg seinerzeit schon ohne drakonische Strafen erzielt. Sie hat die Leute auf den Dörfern medizinisch aufgeklärt und ihnen nützlich Slogans eingehämmert: Später heiraten, weniger Kinder haben!

 

Diese sanftere Politik der Überzeugung hätte völlig ausgereicht, behauptet Soziologe Cai. Als Belegt verweist er auf die Folge: In den gesamten 80er-Jahren, also nach Einführung der grausamen Maßnahmen, ist die Fortpflanzungsrate nur minimal weiter gesunken. Anfang der 90er-Jahre lag sie bei 2,5 Kindern pro Frau. Die weitere Abnahme danach erklärt Cai mit weltweiten Trends: In Gesellschaften, die zu Wohlstand kommen, haben viele Paare freiwillig weniger oder keine Kinder.

 

In Taiwan etwa, das den gleichen kulturellen Hintergrund hat wie Rotchina, aber einen anderen Weg gegangen ist, droht heute eine dramatische Überalterung. Die Geburtenrate lag dabei in den 60er-Jahren noch auf dem gleichen Niveau wie in China.

 

Die Brutalität der Behörden wäre also völlig unnötig gewesen, lautet die Schlussfolgerung Cais. Das Leid war vergeblich, all die Schicksale hatten keinen Sinn. Viele Eltern haben ihre Kinder jahrelang vor den Behörden versteckt gehalten, konnten sie nicht impfen lassen oder zur Schule schicken. Kein Kind ist illegal? In China doch.

 

Cais Onkel beispielsweise wollte unbedingt einen Jungen. Er und die Tante versuchten es immer wieder – und setzten dabei sechs Mädchen in die Welt. Für diese gesetzeswidrig geborenen Kinder musste der Onkel Strafen in Höhe von mehreren Jahreseinkommen zahlen. „Bis seine heimliche Großfamilie auffiel, lebte er wie ein Schwerverbrecher in ständiger Angst vor der Polizei“, erzählt Cai.

 

Ein anderer Fall: Gong Qifen war bereits im siebten Monat schwanger. Die Polizisten nahmen darauf jedoch keine Rücksicht: Sie schnallten die werdende Mutter im Lianyuan-Hospital für Traditionelle Chinesische Medizin auf eine Liege und ließen den Fötus durch eine Injektion töten. Der Junge musste sterben, weil er Gongs zweites Kind gewesen wäre. „Seitdem fühle ich mich wie eine wandelnde Leiche“, beschreibt das Opfer die psychischen Folgen der Zwangsabtreibung. Der Fall kam an die Öffentlichkeit, als die Eltern von der Polizei eine Entschädigung für ihre Qualen verlangten, wie die Zeitung „Shanghai Daily“ berichtet.

 

Einen Grund für die Mythen um den Wert der Ein-Kind-Politik sieht Cai in der Wechselhaftigkeit des einstigen Diktators Mao Zedong. Dieser hatte sich in den 50er-Jahren für möglichst viele Geburten ausgesprochen. Er wollte die Volksmassen auch aus militärischen Gründen anschwellen lassen. Selbst im Falle eines Atomkriegs würden genug Chinesen überleben, um den Staat weiterzuführen. Mütter mit vielen Kindern erhielten Orden und Zuwendungen. Das hat einige enorm geburtenstarke Jahrgänge erzeugt. China Bevölkerungszahl verdoppelte sich.

 

Was weniger bekannt ist: Im Laufe der 60er-Jahre ließ Mao sich offenbar umstimmen. Im Rahmen einer Kampagne für bessere Gesundheitsvorsorge auf dem Lande bekamen die Dorfkomitees den Auftrag, Verhütungsmethoden zu propagieren. Plötzlich waren möglichst kleine Familien das Ziel. „Ein solches Vorgehen hätte bis heute ausgereicht“, betont Cai.

 

Die Ein-Kind-Politik habe stattdessen enormen gesellschaftlichen Kosten verursacht, kritisiert der Soziologe. Das Recht, über die eigene Fortpflanzung zu entscheiden, sei völlig auf der Strecke geblieben. Eine große Zahl von Chinesen sei als Einzelkinder aufgewachsen – mit unbekannten Langfristfolgen für die Gesellschaft. Weil die chinesische Kultur Jungen bevorzuge, werden zahlreiche Mädchen selektiv abgetrieben. Als Folge kommen in China derzeit auf 100 neugeborene Mädchen 116 Jungen.

 

Daran hat auch die jüngste Aufweichung zu einer Zwei-Kind-Politik für Einzelkinder nichts geändert. Wenn beide Elternteile bereits allein aufgewachsen sind, dürfen sie zwei Kinder haben. Diese Neuregelung führt nach Schätzungen der Behörden dazu, dass künftig statt 16 Millionen knapp 17 Millionen Kinder im Jahr auf die Welt kommen.

 

Der Anstieg maskiert jedoch einen anderen Trend: Viele chinesische Paare bekommen freiwillig gar keine Kinder mehr. „Zu viel Mühe, zu teuer, zu große Änderungen am Lebensstil“, fasst ein 30-Jähriger in Peking die Gründe dafür zusammen, dass er und seine Freunden bewusst auf Nachwuchs verzichten wollen.

 

China droht tatsächlich längst das gegenteilige Problem einer schnellen Überalterung. Das frühe Auftreten einer alternden Gesellschaft werde die chinesische Entwicklung tiefgreifend beeinflussen, sagt Ökonom Wang Jun vom China Center for International Economic Exchanges in Peking. Schon seit 2012 schrumpft der Teil der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter. Es bleibt die Frage, wer später einmal die Generationen der Babyboomer versorgt.

 

Soziologe Cai plädiert deshalb für eine sofortige und vorbehaltlose Rückgabe der Familienplanung an die Eltern. Nur so lassen sich Abtreibungen von Mädchen und all die anderen Folgen der Ein-Kind-Politik wirklich abstellen. Er erwartet, dass Chinas Familien von selbst immer kleiner werden, so wie in den asiatischen Nachbarländern: „Entwicklung ist das beste Verhütungsmittel.“

2 Kommentare zu “Vergebliches Leid”

  1. Marzena sagt:

    Hallo Finn!
    Sehr interessantes /er Blog! Ich glaube eine Unstimmigkeit in Deinem Text entdeckt zu haben. Es handelt sich um die neuen Regelungen bzgl. der Ein-Kind-Politik.
    “Daran hat auch die jüngste Aufweichung zu einer Zwei-Kind-Politik für Einzelkinder nichts geändert. Wenn beide Elternteile bereits allein aufgewachsen sind, dürfen sie zwei Kinder haben. Diese Neuregelung führt nach Schätzungen der Behörden dazu, dass künftig statt 16 Millionen knapp 17 Millionen Kinder im Jahr auf die Welt kommen.”

    Die Regelung: “Wenn beide Elternteile bereits allein aufgewachsen sind, dürfen sie zwei Kinder haben” ist bereits seit Jahren im Gange, was sich zuletzt geaendert hat ist: wenn bereits nur ein Elternteil Einzelkind war, kann das Paar 2 Kinder haben. So stand es mindestens in SCMP.

    Gruesse aus Hong Kong!
    Marzena

    • Finn Mayer-Kuckuk sagt:

      Hallo Marzena,

      ja, völlig richtig. Die Stelle ist auf jeden Fall ungenau. Mit der “jüngsten Aufweichung” ist allerdings die Änderung gemeint, die schon einige Zeit in Kraft ist. Dann wollte ich angesichts des bereits sehr langen Textes nicht zu sehr ins Detail gehen und die nächste Stufe auch noch beschreiben. Die Zahl bezieht sich dann allerdings wieder auf die wirklich neue Entwicklung.

      Mea culpa.

      Finn

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